Ein langgehegter Traum
In diesem August habe ich Gelegenheit, einige langgehegte alpine Pläne und Träume zu verwirklichen. Den äußeren Anlass bildet der Besuch von Mona aus den USA, zu dem Nina mich für zwei Wochen von familiären Verpflichtungen weitgehend entbindet. Dazu stellt sich eine anhaltende Schönwetterlage ein, wie man sie früher im August eigentlich nicht kannte.
Heute wollen Julian und ich die Sonnenspitzen überschreiten. Schon bei meinen ersten Ausflügen auf die Gipfel des Moserkars in den Jahren 2013 und 2014 ist mir nicht entgangen, dass das Kar auf beiden Seiten durch wesentlich imposantere Klötze begrenzt wird. Die Kaltwasserkarspitze habe ich dann 2015 bestiegen, doch die Beschreibungen zu den Sonnenspitzen klangen viel zu abschreckend. Wie ja auch der Aufstieg auf die Nördliche Sonnenspitze in der Aufsicht von der Moserkarspitze praktisch senkrecht und völlig undenkbar aussah. Als ich mit Julian und dann auch Kiki andere Karwendelfreunde kennengelernt habe, habe ich die Sonnenspitze einige Male als eines meiner Traumziele erwähnt.
Und heute machen wir sie wirklich. Ich fühle mich dafür so gut vorbereitet wie seit einigen Jahren nicht mehr. Ich habe in dieser Saison bereits einige Touren unternommen und dabei Beine und Kopf schrittweise an größere Anforderungen gewöhnen können. Trotzdem schlafe ich in der Vornacht ziemlich unruhig.
Julian und ich starten um 06:00 Uhr bei mir daheim. Das Auto stellen wir auf dem noch kostenlosen Parkplatz vor der Grenze ab, wo allerdings bereits die Errichtung eines Parkautomaten begonnen hat. Um 07:46 Uhr radeln wir los. Auf der weitgehend flachen Strecke ins Hinterautal begegnen wir zahlreichen Radfahrern. Kein einziger hat ein E-Bike. Der Kontrast zur letzten Tour ins Gleirschtal könnte nicht größer sein. Vielleicht liegt das an der früheren Uhrzeit. Uns gefällt es.
Ich hatte ganz vergessen, wie reizvoll das Hinterautal ist. Besonders gut gefällt es mir an der Einmündung des Moserkars. Diese Gegend ist mein persönliches Alaska. Ich kenne im Karwendel keine schönere Stelle.
Am auch von mir schon einmal bewohnten Biwakplatz hat sich eine Gruppe für einen wohl mehrtägigen Aufenthalt ziemlich häuslich eingerichtet. Diverse Zeltplanen sind aufgespannt, an der Feuerstelle liegt aufgestapeltes Brennholz und der Eingang zu diesem Lager ist mit Gebetsfähnchen geschmückt. Drei der Bewohner sitzen gerade beim Frühstück. Zwei weitere treffen wir am Weg ins Moserkar. Ausgestattet mit einem Funkgerät, über das sie die Verbindung zu ihrem Camp halten, wagen sie einen Vorstoß ins Kühkar. Wahrscheinlich wollen sie das Flugzeugwrack sehen.
Der Aufstieg im Kühkar beginnt sehr schön und angenehm auf einem deutlich erkennbaren Steig. Ich pokere zunächst und fülle mein Trinkwasser nicht gleich unten an der Bachquerung auf. Als der Steig sich dann vorübergehend vom Bach entfernt, verliere ich allerdings die Nerven und steige über eine steile Sandflanke noch einmal zum Wasserlauf hinab. Etwas höher kommt aber auch noch einmal eine Nachfüllgelegenheit, bevor der Bach kurz darauf verschwindet.
Weiter oben wird das Kar zunehmend feinschottrig, steil und anstrengend. Wir halten uns weit rechts nahe der Wand der Sonnenspitzen, was sich als ungünstig erweist. Die Campierer kommen am grasigen Rücken zwischen Westlichem und Östlichem Kühkar deutlich besser voran. Als es zu arg wird, queren auch wir nach links zu der in das Kar eingelagerten Insel, an deren Rand sich bequem aufsteigen lässt.
Der Blick aus der Scharte nach Norden belohnt unsere Mühen. Besonders der Anblick der Nordwände der Laliderer ist imposant.
Es folgt der Aufstieg durch die Westflanke der Nördlichen Sonnenspitze. Aus der Scharte leiten Wegspuren zum Einstieg in einer nach rechts aufwärts verlaufenden Rinne. Diese teilt sich bald in einen linken Ast, der sich kaminartig verengt, und einen flacheren rechten Arm, dem wir folgen. Es schließt sich eine Rechtsquerung um mehrere Ecken an, die jeweils durch Steinmänner gekennzeichnet sind. Dann folgen einige Meter aufwärts in einer wenig ausgeprägten Rinne. In einem kleinen Kessel wird es rätselhaft. Ein vorerst letzter Steinmann links scheint auf ein Band zu verweisen, das waagrecht nach links durch einen Graben verläuft. Ich begehe dieses Band ein gutes Stück, was aber unangenehm ist. Dieser Weg kommt uns nicht richtig vor. Ich kehre daher zurück und wir steigen in unserer Rinne weiter auf. Wir hoffen, dass es sich um die im Alpenvereinsführer erwähnte »breite Rinne« handelt. Da lange keine weiteren Steinmänner auftauchen, verlieren wir diesen Glauben allerdings bald. Wir bleiben einigermaßen entspannt und spekulieren darauf, trotzdem irgendwie zum Gipfel gelangen zu können. Bis nach mehreren Stufen plötzlich doch wieder Steinmänner auftauchen und dann auch der in einer Beschreibung erwähnte Holzstock, der in einer kleinen Gufel an der Wand lehnt. Nun geht es noch über ein Band nach links und schließlich über ein wenig Kackgelände hinauf zum Gipfel. Durch die ganze Sucherei haben wir fast zwei Stunden gebraucht.
Die Aussicht ist außergewöhnlich reichhaltig und beeindruckend. Die Tatsache, dass über das Lafatscher Joch ein kleiner Abschnitt des Inntals mitsamt einer Siedlung sichtbar ist, tut dem keinen Abbruch.
Der Grat sieht etwas furchteinflössend aus. Vielleicht wäre es möglich, das erste Stück etwas unterhalb auf dem Aufstiegsweg zu umgehen. Wir starten aber direkt am Grat, dem wir bei der gesamten Überschreitung und auch im Abstieg praktisch nie um mehr als einen halben Meter in die Flanke ausweichen. Die ersten paar Abstiegsmeter sind sehr bröselig und unangenehm. Wir sind beide angespannt. Dann wird das Gestein schnell besser. Es folgen zwar einige schmale Abschnitte, die im festen Fels aber Freude bereiten. Ich bekomme prächtige Laune und kann die Kraxelei richtig genießen. Ich freue mich, dass wir diesen Berg und diese Überschreitung endlich begehen. Nach einiger Zeit wird der Grat breiter und das Gelände leichter und die größten Schwierigkeiten sind vorbei. Mehrmals noch stellen sich kleine Wände oder Türmchen in den Weg, die abweisend wirken, sich aber jeweils leicht erklimmen lassen. Oben geht es dann meist einfacher weiter. Nach etwa einer Stunde erreichen wir den etwas höheren Nordgipfel.
Um kurz nach drei machen wir uns an den nicht gerade trivial wirkenden Abstieg. Der erweist sich tatsächlich besonders zu Beginn als unangenehmer als die Gratüberschreitung, da der Fels eine deutlich schlechtere Qualität aufweist und überall ziemlich viel Gebrösel herumliegt. Anfangs ist der Abstiegsgrat stellenweise auch sehr schmal. Eine besonders eklige Stelle begehen wir beide als Reitgrat. Unter Missachtung des Denkmalschutzes räume ich zuvor noch einen allzu wackelig aufgesetzten Block ab. Auch an anderen Stellen kommt der Hintern kurz zum Einsatz. Später gehen wir ein längeres Stück leicht links der Kante auf Bändern, wobei der Grat meist gute Griffe bietet.
Dann wird das Gelände flacher, breiter und einfacher, der Grat weitet sich zum Rücken und schließlich kann man in der rechten Flanke sogar ein Stück im Schotter abfahren, hinab zum Beginn einer ausgewaschenen Rinne, die saisonal wohl als Bachbett amtiert. Über die großen, rundgewaschene Blöcke abwärts zu kraxeln macht Spaß und geht relativ flott. Erst gegen Ende verlassen wir die Rinne an einer steileren Stelle nach rechts ins ebenfalls steile Latschengelände, kehren aber schnell wieder in die Rinne zurück. Möglicherweise könnte man auch direkt in der Rinne abklettern, das Gelände ist von oben aber nicht gut einsehbar. Gegen 17:30 Uhr bin ich wieder am Moserkarbach. Der gesamte Abstieg hat uns also etwa zweieinhalb Stunden gekostet, der Teil in der Rinne davon etwa eine Stunde.
Beim weiteren Abstieg begegnen uns zwei Frauen von der Kastenalm, die sich erkundigen, ob das Lager am Biwakplatz unseres sei. Auch sie halten es wohl für etwas überdimensioniert. Neun Stunden nach unserem Abmarsch sind wir zurück an den Rädern.
Die Ausfahrt aus dem Hinterautal ist noch einmal traumhaft schon. Die Abendsonne scheint uns von vorne ins Gesicht. Die Luft ist noch immer so warm, dass die der Fahrtwind auch im kurzärmligen Shirt angenehm ist. Um kurz vor sieben, gute elf Stunden nach dem Aufbruch, sind wir zurück am Auto.
Das war der schönste Bergtag seit langer Zeit! Danke Julian, dass wir diese tolle Tour gemeinsam unternommen haben! Danke außerden auch für die vielen spektakulären Fotos!
Insgesamt etwa 35 Kilometer und 400 Höhenmeter mit dem Rad und 12 Kilometer und 1400 Höhenmeter zu Fuß.